Wie ein Graureiher

 

Ich sehe ihn das erste Mal auf diesem Stein im Teich. Und dennoch wirkt er derart stoisch, als sei er immer schon genauso dort gewesen. Auf einem Bein, den Körper leicht schräg austariert, den langen Schnabel waagerecht. In Trance. Die Sonne scheint auf ihn herab, Enten und Krähen ziehen drumherum so ihre Bahnen – der Reiher steht und schweigt, nicht eine Feder rührt sich.

 

Nun ja, er will sich Fische fangen. Da muss er ruhig stehen. Das verbirgt ihn.

 

Kaum hab ich das gedacht, da putzt er sein Gefieder. Ruhig, mit Genuss. Mal auf dem Rücken, mal die Brust, mal breitet er mit Eleganz den weiten Flügel aus, um mittendrin etwas zu richten. Gelassen und gemächlich.

 

Hat er gar keinen Hunger? Nach fünf Minuten richtet er sich auf. Wird schmal wie eine Flasche. Das andere Bein fährt aus, er beugt sich vor, mach einen langen Hals. Jetzt, gleich, wird er wohl etwas fangen! Er hüpft zum Nachbarstein. Das zweite Bein verschwindet, den Körper hält er wieder schräg in ausgewogener Balance, das Bild friert ein.

 

Ich gebe auf! So viel Gelassenheit kann ich nicht nachvollziehen. Hat er nicht Angst, für heute hungrig dazustehen? Es gibt ja keinen Kühlschrank, der im Dickicht auf ihn wartet.

 

Das Warten kann ich bestens nachvollziehen. Was sehne ich herbei, dass wir uns wieder treffen können. Feiern, uns versammeln, in die Arme schließen.

 

Nur die Geduld, die hat er mir voraus. Mehr noch – ich glaube, er genießt die Zeit, so ganz für sich zu sein. Er mag es, das Gefieder mal in Ruhe gut zu pflegen. Die Sonne bis in jede Pore aufzunehmen.

 

Und er vertraut. Der sich die Reiher ausgedacht hat, der wird auch danach sehen, dass sie ihre Mägen voll bekommen.

 

Jesus sagt (Matthäusevangelium 5, 26ff.): „Seht euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln keine Vorräte – aber euer Vater im Himmel sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel mehr wert als Vögel. (…) Quält euch also nicht mit Gedanken an morgen; der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Last hat.“

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Björn Filsinger (Samstag, 02 Mai 2020 10:25)

    Gelassenheit gibt mir Kraft und streichelt meine Seele. Ich versuche mich auf eine Sache zu fokussieren und zu konzentrieren. Es muss nicht alles auf einmal erledigt werden. Manchmal kann auch anscheinend sehr Wichtiges verblassen und nur dem Reiher zu zuschauen bringt mir die nötige Erkenntnis auch Zeit verschwenden zu dürfen.