· 

Wer bin ich?

 

(ein Beitrag von Pfarrer Ulf Below)

 

Juni 1944.

 

Dietrich Bonhoeffer schreibt ein Gedicht.

 

In seiner Gefängniszelle.

 

Es heißt: Wer bin ich?

 

 

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle

 

gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern

 

frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks

 

gleichmütig lächelnd und stolz, wie einer, der Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

 

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

 

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

 

Ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

 

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

 

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

 

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

 

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

 

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

 

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

 

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich? Der oder jener?

 

Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

 

Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

 

Und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

 

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

 

das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

 

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

 

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

 

Als ich drei Jahre alt war, habe ich das erste Mal „ich“ gesagt.

 

Ich stand vor dem Spiegel,

 

mit meiner Latzhose,

 

zeigte auf mich selbst und sagte: „Ich“.

 

So haben es mir meine Eltern erzählt.

 

Dieses Ich, das ist nicht „Du“.

 

Das ist auch kein ganz anderer.

 

Es ist einfach nur: Ein Ich.

 

Über die Jahre hat sich mein Ich verändert.

 

Unterschiedliche Facetten sind dazugekommen.

 

Ich: Das ist der Junge, der Musik liebt,

 

Geige spielt und singt und tanzt,

 

Ich: Das ist der Wildfang, der tobt,

 

der stundenlang durch den Wald läuft,

 

Auf Bäume klettert und Räume erforscht.

 

Ich: Das ist der Jugendliche, die gern mit sich alleine ist.

 

Der sich verliebt und verrennt.

 

Und immer noch lacht und läuft.

 

Und den Glauben entdeckt.

 

Ich: Das ist der junge Mann, der Theologie studiert.

 

Im Wohnheim wohnt und in den Nächten diskutiert.

 

Der Erfahrungen sammelt und Erfahrungen macht.

 

Ein ganzer Erfahrungs- und Erinnerungsschatz.

 

Ich: Das bin ich heute und hier.

 

Erwachsen, angekommen, im Leben.

 

Und da sind aber auch:

 

Die Sichtweisen von anderen.

 

Die Urteile. Die Beurteilungen.

 

Die mich genauso begleitet haben,

 

über die Jahre hinweg.

 

Du bist viel zu sensibel.

 

Du bist sehr empathisch.

 

Du bist aber faul.

 

Ich bewundere deine Zielstrebigkeit.

 

Du bist zu dick.

 

Du bist zu dünn.

 

Für mich bist du genau richtig.

 

Du wirkst sehr arrogant.

 

Du bist immer so fröhlich.

 

Ein Traumtänzer, ein Träumer.

 

Ein König über das Chaos.

 

Ein Kind Gottes.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

 

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

 

Die Urteile anderer begleiten mich.

 

Manchmal klingen sie mir im Ohr.

 

Vor allem die verletzenden Worte.

 

Sie hallen lange in mir nach.

 

Und tauchen manchmal wieder auf.

 

Dann halte ich mich an den anderen Worten fest.

 

An den stärkenden Worten.

 

Ich bewahre sie in meinem Erinnerungsschatz.

 

Wer bin ich? Der oder jener?

 

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?

 

Den Erinnerungsschatz halte ich fest.

 

Gerade jetzt in diesen Tagen.

 

Wo die Tage und Nächte verschwimmen.

 

Und mit ihnen mein Ich.

 

Vieles von dem, was mich ausmacht,

 

fehlt mir nun, kann ich nicht mehr tun.

 

Keine Musik mit der Kirchenband, kein Sport, keine Reisen.

 

Aber vor allem: Keine Gemeinschaft, kein Treffen mit Freunden.

 

Seelsorge am Telefon.

 

Videokonferenzen und Telefonkonferenzen mit den Kolleginnen.

 

Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen.

 

Allein mit mir und meinen Gedanken.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir,

 

ich trüge die Tage des Unglücks

 

gleichmütig lächelnd und stolz,

 

wie einer, der das Siegen gewohnt ist.

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

 

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

 

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

 

hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

 

dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

 

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

 

ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

 

müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

 

matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

 

Wer bin ich? Der oder jener?

 

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?

 

In allem, auch in diesen Tagen,

 

gibt es diese eine, letzte Gewissheit:

 

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

Wer ich auch bin, ich bleibe ein Kind Gottes.

 

Gott kennt meine Geschichte, mein Leben.

 

Ganz vom Beginn, vom Mutterleib an,

 

bis zum heutigen Tag und darüber hinaus.

 

Er kennt meine ganzen unterschiedlichen Facetten.

 

So wie er mich gemacht hat, bin ich genau richtig.

 

Ich vertraue darauf, dass er mich begleitet.

 

Selbst, in diesen schwierigen Tagen.

 

Wenn ich gar nicht mehr so richtig weiß, wer ich bin.

 

Weiß er es ganz genau.

 

Denn Gott hat mich geschaffen, geformt, geliebt.

 

Er hat mich bis hierhergebracht.

 

Und er wird auch weiterhin an meiner Seite sein.

 

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

 

Amen.

 

 

 

 

 

Bleiben Sie behütet an Leib und Seele, Ulf Below

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0