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Die Gefangene und die neun Mauern

 

Vor zwanzig Jahren habe ich mir ein schönes Geduldsspiel gekauft. Neun Holzkästchen stellen Mauern dar um ein größeres, zehntes herum. Letzteres ist die Gefangene, die ich durch Verschieben der Kästchen vom oberen zum unteren Ende der Schachtel bringen und so befreien soll.

 

Was soll ich sagen – Jahr um Jahr habe ich Kästchen verschoben. Mal ging es gut, mal schlecht. Irgendwann verschwand die Schachtel wieder für ein paar Monate oder Jahre im Schrank. Befreien konnte ich die Gefangene nie.

 

Ich hätte die Lösung im Internet nachlesen könnnen? Klar, aber das wollte ich nicht. Es hat auch etwas Meditatives, so ein unlösbares Spiel aufzunehmen. Tatsächlich ist dann der Weg das Ziel – weil das echte Ende unerreichbar scheint.

 

Manchmal kommt es mir so vor, als säßen wir alle so gefangen herum. Eingemauert durch Masken, Abstandsregeln, Besuchsverbote, geschlossene Sporthallen, gestrichene Feste. In den Familien werden stundenlang Mauern verschoben, um Lösungen zu finden, wenn die einen täglich vielen Menschen begegnen und die anderen zur Risikogruppe gehören.

 

Neulich hat meine Tochter das Geduldsspiel geöffnet. Mit leichter Hand schob sie Kästchen herum, und nach 10 Minuten war die Gefangene befreit. Zuerst war ich wie vom Donner gerührt – zwanzig Jahre gegen 10 Minuten – unglaublich! Dann habe ich selbst wieder angefangen. Mit neuem Schwung. Es war nach wie vor zäh. Aber jetzt hatte ich Hoffnung. Wenn meine Tochter die richtigen Züge gefunden hatte, vielleicht könnte ich das ja doch auch?

 

Lassen wir uns nicht unterkriegen von den ungewohnten Bedingungen, die uns einschränken. Wir wissen, dass sie uns zum Guten dienen. Und wir haben Hoffnung, dass all dies doch ein Ende haben wird, auch wenn wir uns das gerade überhaupt nicht vorstellen können:

 

Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“ So steht es in den Klageliedern in der Bibel im 3. Kapitel. „Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.“

 

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